Und ewig blubbert Lusi
Vielleicht war es ein Fehler bei einer Bohrung oder ein entferntes Erdbeben. Seit zehn Jahren jedenfalls sprudelt Schlamm aus einem Loch in Java. Bereits 40 000 Menschen haben ihre Häuser verloren.
Für Guillaume Mauri muss dieser Ort der Himmel auf Erden sein. Auch wenn andere denken, sie seien auf dem Mond gelandet. Graue Ödnis, so weit das Auge reicht. Kein Baum ist zu entdecken, kein Pflänzchen sprießt auf der verlassenen Ebene. Aber der Franzose mit der roten Baseballmütze sieht glücklich aus. Er ist ein Vulkanologe. Dies ist die Welt, die er mit Leidenschaft erforscht.
Überall liegen kleine Steine herum, die aus der Tiefe kommen. "Manche dieser Brocken stammen aus Schichten, die 2000 bis 3000 Meter unter der Oberfläche liegen", sagt der Forscher. Er bückt sich, greift in den Dreck und dreht ein Steinchen von der Größe einer Kirsche heraus. Er rollt es in seiner Handfläche hin und her, er betrachtet es konzentriert. Ein Steinchen wie jedes andere? Das kann nur denken, wer kein Vulkanologe ist.
Jules Verne kommt einem in den Sinn. Der hat seine Helden in solche Tiefen hinabgeführt. Und noch viel weiter, auf der "Reise zum Mittelpunkt der Erde". Doch die Brocken in Mauris Hand entspringen nicht der Fantasie. Man kann sie drehen und wenden, man spürt ihre Ecken und Kanten. Sie sind alle echt. "Lusi" hat sie nach oben gespuckt. "Ein ganz besonderer Vulkan ist das", sagt der Franzose mit dem Stoppelbart und lässt den Blick über die Ebene schweifen. "Einer, der noch viele Rätsel aufgibt."
Kleine rote Pfützen leuchten in der Morgensonne: Bakterien, die Methan verarbeiten
Lusi liegt im Osten der Insel Java. Im Spitznamen steckt das indonesische Wort "Lumpur". Schlamm. Und "Sidoarjo", der Name des Ortes. Wer bergiges Terrain erwartet hat, wird enttäuscht. Weder brodelt Lava in einem steilen Krater, noch steigen Aschewolken in den Himmel auf. Lusi ist so flach wie eine Flunder und hat vor allem die Eigenschaft, vor sich hin zu blubbern.
Das klingt harmlos, ist es aber nicht. Denn Blubber-Lusi ist der größte Schlammvulkan der Welt. Er spuckt und spuckt. Und hört einfach nicht mehr auf damit. Britische Forscher um den Geologen Richard Davies haben errechnet, dass er noch mindestens 20 Jahre lang Schlamm an die Oberfläche befördern wird, bevor ihn der Mensch - vielleicht - in den Griff bekommen kann. Mit dem Dreck, den Lusi bis dahin ausgestoßen haben dürfte, lassen sich 56 000 olympische Schwimmbecken füllen. Für die Bewohner von Sidoarjo ist das Ausmaß der Sauerei eine Katastrophe.
Große Schätze schlummern in der Tiefe, Öl und Gas. Doch Mauri ist kein Rohstoffjäger. Er arbeitet daran, die Welt unter seinen Füßen zu vermessen, er will Lusis Strukturen und Formen verstehen. Grundlagenforschung nennt er das. Schließlich weiß man über Schlammvulkane bislang nicht sehr viel. Sie entstehen, wenn sich Wasser und Sediment tief unter der Oberfläche unter hohem Druck vermischen und der ganze Matsch dann nach oben drückt. So speien diese Vulkane kein Feuer, sondern Brei.
Mauri helfen Messgeräte bei der Arbeit. Seismometer. Gravimeter. Eine Reihe von Sensoren. An diesem Tag allerdings kommen sie nicht zum Einsatz, denn es hat stark geregnet. Dann ist es mühsam, sich hier zu bewegen. Der Schlamm ist zwar fest, aber glitschig wie Schmierseife. Man muss höllisch aufpassen, um nicht baden zu gehen in diesem Dreck.
"Am besten geht das barfuß", rät der Indonesier Budi Santosa, der es wissen muss, wo er doch hier zu Hause ist. Oder besser: früher zu Hause war. Bevor Lusi erwachte, hat der Mann ganz in der Nähe gewohnt. Doch dann kamen die Fontänen. Santosa, ein gesprächiger Herr Mitte fünfzig, wird gleich davon erzählen. Es ist eine Geschichte voller Schlamm und voller Not. Aber erst mal stapft er los über die Ebene, immer in Richtung der weißen Wolken, die sich dampfend auf der anderen Seite erheben. Denn das ist nun Santosas neuer Job. Der gelernte Schweißer führt Besucher über den Schlammvulkan Lusi.
An den Wochenenden kommen Touristen in Scharen, um sich ein Bild zu machen von dieser morbiden Welt. Katastrophen-Tourismus könnte man es nennen. Oder Liebe zur Mondlandschaft. Zumindest sichert die kollektive Neugier Santosa ein karges Einkommen, nachdem er seinen alten Job in einer Werkstatt - dank Lusi - verloren hat.
Wer spürt, wie sich der Schlamm zwischen den Zehen durchquetscht, fühlt sich an das Wattenmeer erinnert. Nur, dass alles noch viel glitschiger ist. Kleine rote Pfützen leuchten in der Morgensonne. Das sind Ansammlungen von Bakterien, die Methan verarbeiten. Ansonsten fehlt von Leben jede Spur. Abgesehen vom Vulkanologen Mauri, der sich inzwischen aufgemacht hat, um seine Temperaturmesser in den äußeren Pfützen abzulesen. Man erkennt ihn jetzt nur noch als winzige Menschensilhouette, er wirkt beinahe verloren in einem Meer aus Schlamm.
Am frühen Morgen liegt Stille über der Ebene. Später wird sich das ändern, wenn die Touristen einfallen und kichernd durch den Matsch stolpern. Der Schlammvulkan bedeckt nun schon eine Fläche von mehr als sechs Quadratkilometern. Und es wären noch viel mehr, hätten die Behörden nicht Dämme gebaut und Pumpen angeworfen, die den Dreck absaugen und fortleiten in den Fluss auf der anderen Seite. Angesichts der Schwermetalle im Schlamm ist das keine gute Lösung. Kadmium und Blei reichern sich im Wasser und im Fisch an. Aber niemand weiß, wohin mit der blubbernden Flut. Es ist zum Verzweifeln mit Lusi, keiner ist den Kräften aus der Tiefe gewachsen.
Santosa klatscht rhythmisch in die Hände, und schon schießt eine graue Fontäne in die Höhe
Bevor Lusi erwachte, lebte Santosa im Dorf Siring. Im Frühjahr 2006 hatte er sich gerade ein Stück Land gekauft. Er wollte eine Hühnerfarm aufbauen. Nicht weit von seinem Dorf hatte die Firma Lapindo Brantas damit begonnen, nach Erdgas zu bohren. Das Unternehmen gehört zum Wirtschaftsimperium des superreichen Indonesiers Aburizal Bakrie, der auch schon mal für die Präsidentschaft kandidierte. Anfangs schien alles glatt zu laufen bei Lapindo, doch dann gab es Probleme. Und schon kurz darauf war das Desaster nicht mehr zu verbergen. Nicht weit vom Bohrloch entfernt schossen Schlammfontänen aus dem Boden, ein Gemisch aus Wasser, Gas und Sediment. So etwas hatte der Schweißer Santosa noch nicht erlebt, aber er dachte: Das werden die schon wieder zugestopft bekommen. Doch das Leck im Boden, es war nicht mehr zu dichten. Alle Versuche, es mit großen Betonkugeln zu schließen, schlugen fehl. So sprudelte der Schlamm. Und sprudelte. Und sprudelte.
Aus aller Welt kamen Wissenschaftler, um zu ergründen, was geschehen war. Seither gibt es, etwas vereinfacht gesagt, zwei Theorien über den Auslöser von Lusi. Die erste macht die Firma Lapindo für die Misere verantwortlich. Als der Bohrer in mehr als 2800 Meter Tiefe vorgedrungen war, konnte sich demnach gashaltiges Wasser einen Weg nach oben bahnen. Es stammte aus tieferen Schichten, wo ein gewaltiger Druck herrschte. Beim Aufstieg vermischte sich die Flüssigkeit mit Sediment. Und sprudelte schließlich als heißer Schlamm aus Rissen im Boden. Ein Fehler der Firma könnte dabei eine wesentliche Rolle gespielt haben. Denn Lapindo verzichtete ab einer Tiefe von 1000 Metern darauf, das Bohrloch mit Stahlrohren zu ummanteln, wie es üblich ist. So konnten die gewaltigen Schlammmassen überhaupt erst in die Höhe gelangen, glauben einige Forscher.
Im Jahr 2015 bekräftigten Wissenschaftler um Mark Tingay von der Universität Adelaide erneut die These, dass die Bohrung die Schlammeruptionen auslöste. Andere Experten, unter ihnen der Geoforscher Adriano Mazinni von der Uni Oslo, machen ein Erdbeben für den Ausbruch verantwortlich. Nur zwei Tage vor den Komplikationen am Bohrloch von Lapindo hatten Erdstöße Zentraljava in 270 Kilometern Entfernung erschüttert. Laut Mazzini waren es diese Kräfte, die Lusi weckten. Möglich ist aber auch, dass beide Faktoren zusammenwirkten, Forscher dürften darüber noch lange streiten.
Die meisten Einheimischen halten die Firma für die Schuldige. "Hier war die menschliche Gier nach Profit am Werk", sagt Santosa. Das Unternehmen wurde wegen einiger Versäumnisse beim Bohren vom Staat zu Kompensationszahlungen verpflichtet, doch blieb die Schuldfrage angesichts des wissenschaftlichen Streits ungelöst. Nach langem Gezerre entschied Jakarta, die Hauptlast aus der Staatskasse zu begleichen. Die bisherigen Schäden von Lusi werden auf mehr als 2,7 Milliarden Dollar geschätzt.
Santosa lotst seinen Besucher an diesem Morgen sicher über die heißen Bächlein, die sich einen Weg durch den Schlamm bahnen. Ein beißender Geruch von Schwefeldioxid steigt in die Nase. Der weiße Dampf ist nun schon erheblich näher gerückt, aber ein See verhindert den Weitermarsch. Bloß nicht hineinfallen, das Wasser ist dampfend heiß. "Da drüben", sagt Santosa und zeigt auf die dreihundert Meter entfernten Schwaden. "Jetzt genau hinschauen." Dann beginnt er, rhythmisch in die Hände zu klatschen. Er macht das zwei, drei Minuten lang. Bis plötzlich eine graue Fontäne in die Höhe schießt, etwa zwei drei Meter hoch. Lusi kann also nicht nur blubbern, sondern auch kräftig spucken. "Das gelingt eigentlich fast immer", freut sich Santosa. "Wir bitten Gott, und er schickt uns die Fontäne." Schließlich muss er den Touristen ja etwas bieten.
Ob man vielleicht auch mal sein altes Dorf besuchen könnte? Damit man eine Vorstellung bekommt, wie es aussieht, wenn sich der Schlamm durch so eine Siedlung wälzt. Santosa blickt den Fremden mit großen Augen an, macht der Fremde vielleicht Witze? Aber dann sagt er: "Kommen Sie. Ich zeige ihnen, wo Siring ist." Nach einer halben Stunde ist die andere Seite von Lusi erreicht. Der Führer scheint genau zu wissen, welchen Punkt er ansteuert. Mitten in der Wüste bleibt er abrupt stehen, deutet auf den Boden und sagt: "Genau hier unten. Das ist Siring". Nicht ein einziger Giebel spitzt noch heraus. Der Schlamm hat den Ort verschlungen. Er liegt unter mehr als zwölf Metern Schlamm begraben. Mancherorts ist die Schicht schon vierzig Meter dick.
Noch ein Dutzend weitere Siedlungen hat es erwischt, 40 000 Menschen haben ihre Häuser verloren. Für immer Abschied zu nehmen von seinem Dorf, das war für Santosa und die anderen eine große Qual. Anfangs wollte ja keiner glauben, dass der Schlamm ihre Häuser fressen würde. Aber als er sich immer weiter wälzte und kein Damm mehr hoch genug war, um ihn aufzuhalten, begann Santosas Frau Umi eines Tages bitterlich zu weinen. Jetzt wusste sie, dass es kein Zurück geben würde.
Die Körper reißen die Arme in die Höhe, wie Ertrinkende in einem Meer von Schlamm
Der Schlamm verschluckte alles: Häuser, Schulen, Moscheen, Autos, Straßen. Viele hatten keine Chance mehr, ihr Hab und Gut zu retten. Santosa hat nur den Fernseher und ein paar elektrische Geräte rausholen können. Sonst nichts. Doch der Schweißer beklagt sich nicht über sein Schicksal. "Wir sind glücklich, dass wir noch leben", sagt der Familienvater, der einen Sohn und eine Tochter großgezogen hat. "Wir kommen schon klar, irgendwie."
An das Dorf Siring, erinnert jetzt nur noch die Kunst. Eine Installation aus weißen Figuren steckt dort im Matsch, geschaffen von dem Indonesier Dada Christanto. Die Körper reißen die Arme in die Höhe, wie Ertrinkende im Sumpf. Stille Schreie in einem Meer aus Schlamm.
Das Unternehmen Lapindo hat indessen den Plan, erneut zu bohren. Nicht da, wo Lusi sich breitmacht, sondern ein paar Kilometer weiter weg. Die Leute protestieren bereits heftig, sie wollen nicht so enden wie die Bewohner aus Siring. Der Geologe Amien Widodo von der Universität Surabaya kann die Angst nachvollziehen. Er hat ein Gutachten für die Regierung erstellt über die Risiken, wenn in der Nähe von Lusi erneut gebohrt wird. Ein schwieriger Job war das angesichts des wissenschaftlichen Streits, der noch nicht beigelegt ist. Und Lapindo gehört einem einflussreichen Clan. Doch das hat Widodo bei der Arbeit nicht abgeschreckt. "Die ganze Gegend ist noch stark in Bewegung, ein Bohrung in der Nähe halte ich für zu gefährlich ", sagt der Wissenschaftler.
Seine Warnung hat er dem Energieministerium im August übermittelt. Seither hat er nichts mehr über Lapindos Pläne gehört. Auf den Baustellen ist es still. Vielleicht wegen der Skepsis der Geologen, vielleicht aber auch wegen eines Wechsels im Kabinett. Der Präsident, der gerne die Köpfe tauscht, hat noch keinen neuen Energieminister ernannt. Alle warten ab. Nur Lusi blubbert weiter.
Arne Perras - Naturkatastrophen